Direkt am Anfang der Woche erlebe ich mein persönliches Caminohighlight. Das Cruz de Ferro wartet auf der ersten Tagesetappe dieser Woche von Rabanal nach El Acebo.
Es wechseln sich in den kommenden Tagen Wege durch wunderschöne, aussichtsreiche, heidebewachsene Berglandschaften mit zu vielen nervigen asphaltierten Kilometern entlang befahrener Straßen ab. Ich kehre der Region Kastilien und Leon den Rücken zu und betrete das grüne, regenverwöhntere Galizien. Konditionell bin ich mittlerweile wieder ziemlich fit und als nettes Nebenprodukt darf ich sogar meine Gürtelschnalle enger stellen.
Noch knapp 250 Kilometer liegen vor mir bis nach Santiago.
Tag 29 Rabanal del Camino - El Acebo
"Wenn du es dir vorstellen kannst, kannst du es auch tun." (Walt Disney)
Viele Male hatte ich mir vorgestellt, wie es an diesem Ort wohl sein würde.
Ganz unverhofft taucht das Cruz de Ferro plötzlich vor mir auf und trifft mich mit voller Wucht. Ich bin da! Ich bin überwältigt, einfach nur überwältigt. Der bloße Anblick des auf Holz montierten Eisenkreuzes lässt mich unvermittelt in Tränen ausbrechen und berührt mich tief in meinem Herzen. Ich lasse mir sehr viel Zeit, lege meinen Pilgerstein zu Tausenden im Laufe der Zeit hinterlassener bemalter Steine, Fotos und Zetteln mit Namen, Worten, Daten. Ein wogendes Meer voller Geschichten und Gedanken zu meinen Füßen. So nahe, greifbar, und doch unbegreiflich, welche Schicksale und Lasten hier so zentriert auf wenigen Quadratmetern abgelegt wurden.
Ich fühle tiefe Dankbarkeit, dass ich an diesem Ort sein darf. Und auch ein wenig Stolz auf mich.
Es ist ein perfekter Tag. Perfektes Wetter. Perfekte Landschaft. Wunderschöne Ausblicke auf die Berge wechseln sich mit heidebewachsenen Hängen und schattenspendenden Bäumen ab. Nicht nur der mit 1500 Metern höchstgelegene Platz des gesamten Weges , sondern auch mein persönlicher Höhepunkt des Caminos. So fühlt sich Glück an.
Tag 30 El Acebo - Ponferada
"Und wie halten deine Knie, so?"
(Pilger zu mir)
Erneut ein Tag an dem ich mich in den Farben des Himmels verlieren könnte. Es wartet der steilste Teil des Abstieges nach Molinaseca, aber ich finde ihn nicht schlimm.
Ich überhole einige , humpelnde Pilger mit lädierten Knien, die sich zu multiplizieren scheinen, je weiter man nach Westen kommt. Großes Lob an meine Knie - sie halten sich top nach dem Motto: "Stöcke dabei - Knieschmerz frei".
Von weitem schon kann man heute das Tagesziel Ponferada im Tal liegen sehen.
Gegen Mittag steigt das Thermometer erneut auf knapp 30 Grad. Bin froh, die Etappe geschafft zu haben, als ich mal wieder schweißgebadet in der schattigen Unterkunft ankomme. Obwohl hinreichend erschöpft, schaffe ich es gerade noch mir die gut erhaltene Burganlage anzusehen, bevor sie um 18.30 Uhr keine Besucher mehr einlassen.
Tag 31 Ponferada - Villafranca del Bierzo
"Was haben die Trauben hier und mein Gehirn gemeinsam?"
(ich zu einem Pilger)
Hinter Ponferada wird wieder viel Wein angebaut, dessen Rebstocklaub in leuchtenden rot und grün bezaubert. Leider waren die Pflanzen wohl zu viel Trockenheit ausgesetzt, wie auch schon die Sonnenblumen in der Meseta. Die Trauben sind mickrig und allesamt verschrumpelt. Es sei denn, es handelt sich um gewollte Rosinenplantagen.
Auch ich bin wieder zu viel Sonne ausgesetzt, die mein Hirn, rosinengleich, schrumpfen lässt.
Dies führt zu der Fehlentscheidung den gelben Pfeilen direkt auf der befahrenden Bundesstraße nach Villafranca del Bierzo zu folgen, statt drei, aber dafür sichere, Extrakilometer, durch die sanft ansteigenden Rosinenberge zu gehen. Ich komme entnervt in Villafranca del Bierzo, am Fuße der Sierra des Ancares gelegen, an. Bin sauer auf mich. Der Asphaltausflug war total überflüssig!
Als ich später nochmal sonnengewöhnt in bester Beachpilgerklamotte zum Supermarkt losgehe, werde ich in Sandalen, natürlich ohne Regenzeug, von einem mittleren Unwetter mit heftigem Platzregen überrascht, das mich über eine Stunde nicht in meine Albergue zurückkehren lässt. Zumindest nicht trocken. Skandalös! Dafür darf ich einen Regenbogen sehen.
Tag 32 Villafranca del Bierzo - Vega de Valcarce
Jedes neue Problem ist immer auch eine Möglichkeit.
(ich zu mir nach Handyausfall)
Auf der heutigen Etappe bietet sich spontan die Möglichkeit mal ganz ohne Handy auszukommen, da dieses, unabhängig von meiner Einwilligung, beschließt einen Pausentag einzulegen und mir nur einen schwarzen Bildschirm präsentiert. Ein Zeichen? Eine Möglichkeit? Wahrscheinlich. Aber auch ein Problem.
Ich versuche letzteres zunächst, mit mehr oder weniger großem Erfolg, zu ignorieren.
Mit der Zeit wird mir aber klar, wie verdammt abhängig man doch von so einem Gerät geworden ist... Neben dem fehlenden Zugriff auf die Kontakte nach Hause, meinen Tickets und der weiteren Routenplanung mit der Ninjaapp, kann ich auch keine Fotos mehr machen.
Am späten Nachmittag in der nächsten Herberge beschließe ich doch auf handyfreies Pilgern zu verzichten und mich der ursprünglichen Problematik zu widmen. Es gelingt mir tatsächlich selbst die Reparatur durchzuführen und ich mache wenigstens abends noch ein paar Fotos in Vega de Valcarce. Von dort bleibt mir Maria in bester Erinnerung, hilfsbereite, herzliche Pensionsbesitzerin, die uns das beste Pilgeressen des gesamten Caminos serviert. Mit so viel Liebe gemacht!
Tag 33 Vega de Valcarce - Linares
"Wohin du auch gehst, gehe mit Deinem ganzen Herzen".
(chinesische Weisheit)
Der nächste unglaubliche Morgen. Ich bin erstaunlicherweise noch fast allein unterwegs und genieße die Ruhe, die klare Luft, die Stille, das Licht, ja sogar den Aufstieg nach O Cebreiro. Schöner kann es kaum sein.
Je weiter ich mich an dem letzten höheren Hindernis zwischen mir und Compostela hochhangele, desto mehr Menschen treffe ich. Obwohl ich mal wieder Bedenken hatte, ob mir der letzte Berg konditionelle Schwierigkeiten bereiten könne, merke ich, dass dem nicht mehr so ist. Ich fühle mich fit, lasse alte schnaufende Männer hinter mir zurück. Ich bin zwar immer noch kein Thalys, aber nun doch ein verlässlich lustig pfeifender D-Zug geworden.
In O Cebreiro bin ich mit ein paar Damen zum Mittagessen verabredet. Viel früher als erwartet laufe ich dort ein.
Das erste galizische Dorf. O Cebreiro ist ein keltisch geprägter Ort, der außer von mir Pilger-D-Zug auch gerne von Touristen in Autos besucht wird. Ich bin überrascht wie viel hier los ist und welch Kapital der Ort aus der boomenden Pilgerbranche schlägt. Die erste Ansammlung Geschenkelädchen in dieser Dichte. Dennoch gefällt mir das alte Steindörfchen mit den prägnanten Dächern sehr und ich bedaure, dass ich nicht hier übernachten kann. Es ist leider alles ausgebucht. Die Bettendichte ist nicht ganz so hoch wie die Beliebtheit.
Tag 34 Linares - Triacastela
"Wenn ich nicht genau wüsste, dass ich durch Galizien ziehe, würde ich heute wohl durch ein verweintes Irland wandeln".
(lyrisches ich zu mir)
Statt eines beschreibenden Textes möchte ich an dieser Stelle meiner lyrischen Ader Ausdruck verleihen und mit einem Reim die Eindrücke des Tages beschreiben:
Mein Tag startet feucht, dafür nicht ganz fröhlich.
Grenzenlos neblig, eher gesagt nöl' ich.
Das Wasser findet jede Ritze,
auch die, auf der ich sonst nur sitze.
Ungemütlich trifft die Lage,
vor mich hin ich leise klage.
Gegen Mittag klart es auf,
Mensch wieder sieht der Sonne Lauf.
Auch mein Gemüt erhellt sich prompt,
in Sicht das Tagesziel schon kommt.
Vorm Dorf ein Walnussriese steht,
und bei der Kirch' sitzt
Buddha.
Zum Gebet.
Tag 35 Triacastela - Sarria
"Der Camino ist Ikigai." " Was heißt das bitte?" "Das, wofür es sich zu leben lohnt".
(ein japanischer Pilger zu mir)
Als einsamstes Stück des gesamten Frances präsentiert sich der heutige Teil zum Kloster Samos, der mit einigen Kilometern bewusst gewähltem Umweg verbunden ist. Der Weg führt, passend zur schweren Frühnebelstimmung, durch einen alten, verlassenen Weiler mit verfallenen Häusern, verrammelten Fenstern, verwilderten Gärten und vollgerümpelten Höfen. Nur eine hungrige Horde Katzen tummelt sich auf einem unkrautüberwucherten Platz. Ich finde den Ort ziemlich unheimlich und tauche schnell in den sich anschließenden Wald ein. Die Pfeile sind hier so spärlich wie sonst nirgendwo.
Tief in Gedanken folge auf weichen Waldboden dem Pfad. Ich erschrecke mich zu Tode, als urplötzlich, eine Frau an mir vorbeischwebt und mir ein kräftiges "Buen Camino" in die Seite schmettert. Sie entschuldigt sich, als sie meinen überrumpelten Blick sieht.
Nach einer Pause am Kloster Samos geht es auf die zweite Hälfte der Etappe bis nach Sarria. Nun in Begleitung eines alten Bekannten, den ich in Samos traf. Dieser Abschnitt ist absolut empfehlenswert. Bei wieder bestem Wetter finden wir einen absolut idyllischen, liebevoll eingerichteten Platz zum Kraft tanken, wo ich meine erste Tarte de Compostela probiere, bevor es weiter ins wuselige Sarria geht.
Am Ende dieser Woche bin ich im pilgervollen Sarria angekommen. Ab hier nimmt die Zahl der Pilger nochmal kräftig zu. Es sind noch 110 Kilometer bis nach Santiago. Ich habe in dieser Woche 140 Kilometer zurückgelegt. Ich fühle mich gut.
Lies über meine letzten Tage unterwegs in Woche 6 von Sarria nach Santiago.
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